Uri Bülbül

Literatur pur

Ein episches Stück für zwölf Stimmen und keinen Propheten

Literatur pur - das erinnert an l'art pour l'art, das erinnert an Kunst, die sich der sozialen und politischen Verantwortung entziehen möchte, das erinnert an eine Bohème, die dekadent im Elfenbeinturm Opiumfeste feiert und sich der Promiskuität hingibt.

Literatur pur - könnte das nicht etwas Orgiastisches werden? Etwas Lüsternes? Etwas absolut Geiles? Und die Literaturoffensive - ich bitte Sie - sie könnte doch die Offensive der Lust sein, der Antibürgerlichkeit, der Amoral, der Zügellosigkeit - Literatur pur eine reine Triebtat! Lust, die Ewigkeit will, Lust, die sich an sich selbt erfreuen kann mit schrillem Geschrei und leisem Stöhnen, Lust, die mit glühenden Augen zwinkert und feurig an unseren Ohren züngelt - das könnte Literatur pur sein.

Mal ehrlich: Woran haben Sie gedacht, als Sie es hörten, als Sie es lasen, als Sie es irgendwo vernahmen oder verkündet bekamen? Haben Sie an Brechts Liebesgedichte gedacht - an die ganz schamlosen? Dort, wo die Erotik nur noch sexuell sein will? Haben Sie an Sex gedacht, als Sie Literatur pur hörten? Haben Sie den Absinth-Atem eines irregewordenen Bohemiens im Nacken gespürt oder die faulenden Zähne aus dem Lachenden Mund direkt vor Augen gehabt? Oder haben Sie gedacht, daß Ihre tobenden Kinder besser ein Buch lesen und still in der Ecke sitzen sollten, ganz in die Lektüre von Zauberern und Feen und Abenteuern vertieft? Haben Sie an Seeräuber gedacht, an Ärzteromane und Schicksalsschläge, an Hodenkrebs und Brustamputation? Haben Sie an eine Wasserleiche gedacht oder an eine vergiftete Degenspitze oder an einen König, der sich die Augen aussticht oder an einen Mohren, der vor Eifersucht wahnsinnig seine geliebte Frau ermordet, die im treuen Glauben nichts Unrechtes getan zu haben, unschuldig ihrem rasenden Mann in die Augen blickt? Haben Sie an einen Detektiv gedacht, der nachts mit aufgeschlagenem Kragen in einer dunklen Ecke sich eine Zigarette anzündet? Haben Sie vielleicht blutschwitzende Xylophonspieler gesehen, die auf Totenschädeln trommeln? Irgend jemand trägt die Verantwortung murmelt es. Irgend jemand muß sie doch übernehmen? Ein munteres Schlachten all überall und die Börse jeden Tag in den Nachrichten für Kleinanleger. Die Datennetze gespannt. Wer möchte sich nicht darin verfangen? Ein Stückchen von der Torte, ein kleines Stückchen nur, ein Naschen am Sahnehäubchen, einmal Macht riechen, einmal das Süße auf der Zunge zergehen lassen, einmal Publikum, einmal Applaus von der ganz frenetischen Sorte - Da capo! Da capo! Einmal eine Millionenauflage in hundert Sprachen dieser Welt! Einmal auf dem Konto die Nullen zählen! Für den armen Poeten: Literatur pur!
[Auszug]
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